Videoüberwachung und Anonymität bei Versammlungen

Die Videoüberwachung des öffentlichen Raums greift immer stärker um sich. In NRW gibt es inzwischen immer mehr Städte, in denen die Polizei alltäglich Teile des öffentlichen Raums per Videokameras beobachtet und überwacht. Die Bilder werden direkt angesehen und auch für spätere Auswertungen gespeichert. Bei Versammlungen (u.a. Kundgebungen und Demonstrationen) darf die Polizei oder andere staatliche Behörden nicht ohne Anlass Bild- oder Tonaufnahmen machen. Nur, wenn durch eine Demonstration eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit entsteht, darf diese von der Polizei bisher gefilmt werden. Zusätzlich dürfen Straftaten Einzelner bildlich dokumentiert werden.
Der Gesetzentwurf der Landesregierung NRW sieht nun die Möglichkeit vor, dass die Polizei Übersichtsaufnahmen von Versammlungen auch dann anfertigen und in eine Leitstelle übertragen darf, wenn es wegen ihrer Größe oder Unübersichtlichkeit zu Lenkungs- und Leitungszwecken notwendig ist (§16 Abs. 2 S. 1). Der Begriff der „Unübersichtlichkeit“ ist tatbestandlich völlig konturenlos und damit beliebig auslegbar, zugleich wird die Schwelle für die Anwendung der Videoüberwachung herabgesenkt. Damit ist eine Videobeobachtung nicht mehr an Gefahrenprognosen oder Straftaten gebunden, sondern muss – außer bei Kleinstkundgebungen – immer als gegeben angenommen werden. Zusätzlich dürfen diese Übersichtsaufnahmen unter bestimmten Voraussetzungen sogar aufgezeichnet werden. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, wird regelmäßig die Polizei vor Ort entscheiden – Teilnehmende können dies nicht vorhersehen und sich dem also faktisch nicht entziehen. Aufnahmen und Aufzeichnungen müssen zwar laut Entwurf in den meisten Fällen ‚offen‘ vorgenommen werden, allerdings muss nur die Versammlungsleitung darüber informiert werden (§ 16 Abs. 3), die Versammlungsteilnehmer:innen jedoch nicht.

Wenn von der Polizei Videoaufnahmen angefertigt werden, ist es für Versammlungsteilnehmer:innen nicht erkennbar, wozu diese Aufnahmen von staatlicher Seite verwendet werden. Ob sie gespeichert, analysiert oder mit Datenbanken abgeglichen werden und ob daraus Nachteile entstehen können, ist nicht abschätzbar und auch nicht überprüfbar. Damit hat schon die Ausrichtung einer Kamera auf eine Versammlung eine einschüchternde Wirkung, die dazu führen kann, dass sich Versammlungsteilnehmer:innen nicht frei verhalten und ihre Meinung frei kundtun. Es kann sogar dazu führen, dass Menschen ganz auf die Ausübung ihrer Freiheitsrechte verzichten und nicht an Versammlungen teilnehmen.

Das Bundesverfassungsgericht sah bereits 1983 im sog. Volkszählungsurteil in der Observation von Versammlungen einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit und das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung. Für ein demokratisches Gemeinwesen ist die artikulierte zivilgesellschaftliche Meinungsbildung grundlegendes Element demokratischer Teilhabe, die einschließt, dass Meinungsbildung und -kundgabe frei von staatlicher Einschüchterung und Einflussnahme sind, was insbesondere auch die anonyme Teilnahme an Versammlungen beinhaltet.

Mit dem Recht auf anonyme Teilnahme ist eine Videobeobachtung in Form von Übersichtsaufnahmen nicht vereinbar. Bei der heutigen Kameratechnik kann die Polizei jederzeit von Übersichtsaufnahme in Detailaufnahme wechseln. Bei gespeichertem Material ist das meist auch nachträglich noch möglich. Wie schon erwähnt, kann das der:die Grundrechtsträger:in nicht kontrollieren. Reine Übersichtsaufnahmen im technischen Sinne gibt es heute nicht mehr.

Mit Verweis auf die Grundrechte konnte z.B. die Polizei Köln durch gerichtliche Verfahren dazu gezwungen werden, ihre stationären Videokameras in der Stadt immer dann mit Sichtblenden zu versehen, wenn der alltäglich überwachte Raum von Versammlungen genutzt wird. Durch den Gesetzentwurf werden diese Entscheidungen konterkariert, weil nun neben eine verhüllte Kamera eine andere gestellt werden können soll.

Allein der Umstand, dass nach dem Gesetzentwurf unter bestimmten Voraussetzungen auch verdeckte Aufnahmen oder nicht erkennbare Drohnenkameras explizit erlaubt sind, kann ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem Staat verstärken, das dem selbstermächtigenden Erleben einer staatsfreien Versammlung zuwiderläuft. Zudem wird der Polizei die Möglichkeit gegeben, Kameras auf Gruppen auszurichten, und diese dadurch als „böse“ Demonstrierende zu stigmatisieren, zumal unklar bleiben wird, ob dies wegen unmittelbarer Gefahr oder „zur Lenkung und Leitung“ geschieht.

Daneben gefährden auch Maßnahmen wie die im o.g. Gesetzentwurf vorgesehenen Kontrollstellen und Datenangaben von Ordner:innen das Recht auf anonyme Teilnahme an Versammlungen. Eine Kontrolle der Polizei, ob sie Daten gesetzeskonform erhebt, speichert, verwendet und auch wieder löscht, findet in der Regel auch nicht durch die Landesbeauftragten für Datenschutz statt. Ihre Behörden sind mit zu wenig Mitteln und Personal ausgestattet. Zudem haben sie auch zu wenig rechtliche Handhabe, um eine effektive Kontrolle durchzuführen. Das hat sich u.a. in den Klageverfahren gegen die stationäre polizeiliche Videoüberwachung in Köln gezeigt, bei denen die LDI NRW nach eineinhalb Jahren noch immer keine inhaltliche Beantwortung von Datenanfragen und Hinweisen auf Verfahrensmängel bei der Polizei Köln im Umgang mit Videodaten zustande gebracht hat.

Dabei gibt es genug Beispiele für illegale Videobeobachtung von Versammlungen, u.a. die antifaschistische Demonstration gegen das sog. Braune Haus in Bad Neuenahr 2012, die Demonstration gegen die Innenministerkonferenz in Köln 2014, Kundgebungen der Initiative kameras-stoppen auf dem Wiener Platz 2019 und antirassistischer Gruppen auf dem Neumarkt 2020 in Köln.

Ein weiteres Beispiel für den Umgang mit Videodaten zeigen die polizeilichen Ermittlungen nach den G20-Gipfel-Protesten in Hamburg. Dort hat die Polizei angefertigte Bildaufnahmen nachträglich mit einem Programm analysiert, welches biometrische Merkmale von Gesichtern der Teilnehmenden erkennt und in eine Biometrie-Datenbank abspeichert. Diese Datenbank, für die es keine Rechtsgrundlage gibt, wurde vom Hamburger Datenschutzbeauftragten als rechtswidrig eingeschätzt. Gegen die Löschanweisung des Datenschutzbeauftagten leitete der Innensenator zunächst ein Klageverfahren ein, das bisher nicht letztinstanzlich entschieden wurde.

Nur das Nichterheben von Daten kann die Versammlungsfreiheit und das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung wirklich garantieren. Videoaufnahmen und auch andere Formen von staatlicher Datenerhebung sind im Zusammenhang mit Versammlungen und Meinungsäußerungen eine Gefahr für demokratische Prozesse und somit für die gesamte Gesellschaft.

Dieser Text wurde von der Initiative Kameras Stoppen geschrieben. Die Kölner Initiative richtet sich gegen die polizeiliche Videoüberwachung in Köln. Ziel der Kampagne ist es, die bestehende Videoüberwachung einzustellen und geplante zu verhindern. Dabei hat sie schon einige juristische Erfolge errungen.