Die Polizeifestigkeit – ein verfassungsrechtlicher Grundsatz, der sich aus der Versammlungsfreiheit, Art. 8 Abs. 1 GG, ergibt…
…war einmal, wenn es nach dem Entwurf der Landesregierung NRW geht.
Polizeifestigkeit? – Was ist das?
Die Versammlungsfreiheit als kollektive Meinungsfreiheit stellt sich dar als „eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt, welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend ist“ (BVerfG, Brokdorf-Beschluss, 1 BvR 233, 341/81).Daraus folgt der Grundsatz: Bei einer Versammlung sind Maßnahmen nach dem Polizeigesetz gesperrt. Die Polizei darf ihre Maßnahmen grundsätzlich nur auf das Versammlungsgesetz stützen. Maßnahmen, die sie in anderen Fällen auf das Polizeigesetz stützen könnte (wie z.B. Identitätsfeststellung, Durchsuchung, Ingewahrsamnahme u.a.) sind nicht möglich. Sie darf also beispielsweise (wenn die notwendigen sehr hohen Voraussetzungen vorliegen) die Versammlung auflösen. Aber sie darf zum Beispiel nicht alle Teilnehmer:innen einer Versammlung zur Identitätsfeststellung anhalten; und auch keinen Platzverweis aussprechen oder sogar Versammlungsteilnehmer:innen zur Durchsetzung dieses Platzverweises in Gewahrsam nehmen.
Kurz gefasst, die Teilnahme an einer Versammlung schützt grundsätzlich gegen polizeirechtliche Maßnahmen. So soll vermieden werden, dass die Polizei aus Gefahrenabwehrzwecken die Versammlung oder Versammlungsteilnehmer:innen behindert.
Von der Ausnahme zur Normalität?
“Grundsätzlich“ heißt, dass es Ausnahmen gibt. Und ja: Die gibt es auch bisher bereits. Zum Beispiel kann zur Abwehr einiger Gefahren, die nicht von Teilnehmenden ausgehen, auch in einer Versammlung polizeirechtlich vorgegangen werden. Und bei Verdacht auf eine begangene Straftat darf auch jetzt schon die Identität von Versammlungsteilnehmer:innen festgestellt werden. Aber: Eben nur in Ausnahmefällen beziehungsweise zur Strafverfolgung! Und immer nur dann, wenn die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit hierbei berücksichtigt wird.
Wie ein Grundsatz aufgehoben wird zeigt der Gesetzentwurf der Landesregierung. Hierin zeigt sich, wie viel – oder besser: wie wenig – die Versammlungsfreiheit der Landesregierung bedeutet. Geht es nach diesem Entwurf, dann wird die neue Normalität so aussehen:
„Soweit dieses Gesetz die Abwehr von Gefahren gegenüber einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern nicht regelt, sind Maßnahmen gegen sie nach dem Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen […] zulässig, wenn von ihnen nach den zum Zeitpunkt der Maßnahme erkennbaren Umständen vor oder bei der Durchführung der Versammlung oder im Anschluss an sie eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht.“ (§ 9 des Entwurfs).
Und in der Begründung heißt es: „Der zweifellos hohe Rang der Versammlungsfreiheit kann in der Abwägung mit anderen hochrangigen Schutzgütern nicht dazu führen, dass sich die Versammlungsfreiheit in jedem Falle ‚durchsetzt‘.“
Der Schutz der Versammlung vor polizeilichen Eingriffen wird dadurch aufgehoben. Die Versammlungsfreiheit wird dem Polizeigesetz untergeordnet. Damit wird die Versammlungsfreiheit als /Abwehrrecht/ gegenüber dem Staat, also als Freiheit /vor/ staatlichem Eingreifen aufgehoben. Stattdessen wird staatliches Eingreifen der Polizei gegen Versammlungsteilnehmer:innen gewollt und ermöglicht. Der Verfassungsgrundsatz der Polizeifestigkeit wird einfach aufgelöst, die Versammlungsfreiheit der Bürger:innen dem polizeilichen Machtanspruch untergeordnet.
Uneingeschränkte Definitionsmacht bei der Polizei
Natürlich kann man einwenden: Das gilt doch nur bei erkennbaren Umständen einer „unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ vor oder bei der Durchführung der Versammlung oder im Anschluss an diese. Trotzdem muss klar sein: Die Entscheidung über die Frage, ob eine solche Gefahr gegeben ist, trifft die Polizei. Die Definitionsmacht haben die staatlichen Organe. Somit stehen Bürger:innen in der jeweiligen Situation ohnmächtig vor der aktuell getroffenen Entscheidung von Exekutivbehörden. Diese entscheidet, führt aus, setzt durch – und im Nachhinein die Rechtswidrigkeit feststellen zu lassen, birgt Unsicherheiten, kostet Geld und – vor allem – hilft in der konkreten Situation überhaupt nicht.
Den Grundsatz der Polizeifestigkeit aufzuheben, öffnet für willkürliche Maßnahmen der Polizei vor Ort Tür und Tor. Die geplante Vorschrift des § 9 VersGE bildet künftig eine Rechtsgrundlage für rücksichtslose Eingriffe in die Versammlungsfreiheit. Damit wird das Versammlungsrecht tiefgreifend geändert: Bislang durften Versammlungsteilnehmer:innen nur ausnahmsweise von der Polizei als Störer:innen behandelt werden. Alle Bürger:innen waren unter dem Dach der Versammlung vor einfach-polizeilichen Maßnahmen geschützt. Jetzt bietet eine Versammlung keinen Schutz mehr. Die Polizei kann genau so gegen sie vorgehen wie gegen jede:n andere:n Bürger:in. Und so steht zu befürchten, dass das, was unter der Ägide der Polizeifestigkeit noch Versammlungen waren, nach dem Versammlungsgesetz nur noch lästige Ansammlungen von Störer:innen sind.